UNIVERSITÄT ZAGREB
PHILOSOPHISCHE FAKULTÄT
IVANA LUČIĆA 3
Annemarie Vučetić
Der Kleinbürger bei Grass
Magisterarbeit
Mentor: Prof. Dr. Ivo Runtić
Zagreb, 2009
Inhalt:
0.0. Vorwort 5
1.0. Geschichte eines Schriftstellers, Erfolg eines Romans 7
1.1. Der ewige Spießer 11
1.2. Der Spießer als deutsche literarische Figur im 20. Jahrhundert 17
2.0. Überlegungen und Vorschläge zur Interpretation 23
2.2. Die Blechtrommel – ein moderner deutscher Bildungsroman? 28
2.3. Der sogenannte Schelmenroman und der sogenannte pikareske Erzähler 32
3.0. Elemente des sogenannten Zeitromans –
zwischen Realität und Wahn 38
3.1. Zwischen der Makro-und Mikroebene des Romans:
ein literarisches Paradoxon 42
3.2. Der Roman als quasi-historische Symbolik, die Figur als Allegorie ? 44
4.0. Erzählperspektiven 49
4.1. Aus der Sicht eines Dreijährigen – Erzähler und Erzählzeit 49
4.2. Die Sprache der Blechtrommel – der Erzähler im modernen Roman 53
5.0. Die Lebensgeschichte eines Blechtrommlers 57
5.1. Oskars Bildungsgang und Künstlerkarriere 58
5.2. Reflexionen zur Aufklärung – jenseits von Gut und Böse 62
5.3. Der “Vatermörder” oder der “Chronist des Bösen” 65
5.4. Die Schwarze Köchin und das Jesuskind 72
6.0. Erwägungen zum Problem “Kleinbürger” 79
7.0. Beschluss 91
8.0. Literaturverzeichnis 100
8.1. Primärliteratur
8.2. Sekundärlitertur
0.0. Vorwort
“Unter Glühbirnen geboren, im Alter von drei Jahren vorsätzlich das Wachstum unterbrochen, Trommel bekommen, Glas zersungen, Vanille gerochen, in Kirchen gehustet, Luzie gefüttert, Ameisen beobachtet, zum Wachstum entschlossen, Trommel begraben, nach Westen gefahren, den Osten verloren, Steinmetz gelernt und Modell gestanden, zur Trommel zurück und Beton besichtigt, Geld verdient und den Finger gehütet, den Finger verschenkt und lachend geflüchtet, aufgefahren, verhaftet, verurteilt, eingeliefert, demnächst freigesprochen, feiere ich heute meinen dreißigsten Geburtstag und fürchte mich immer noch vor der Schwarzen Köchin – Amen.” (Bt, 709)
Amen, sagt der kleine Oskar und versucht es mit 30 Jahren und mit Hilfe seiner Trommel noch einmal, sich in die alltägliche Welt als eine Art Bürgerschreck und Provokteur einzugliedern. Aber was ist es außerdem, das den Oskar Matzerath und seine Trommel auch nach fast 50 Jahren immer noch für die Leserschaft interessant macht? Ist es vielleicht seine wunderliche Gestalt, seine dekomponierte Weltanschauung, seine Zwergsperpektive, aus der er seine Mitwelt betrachtet und gleichsam verachtet, sind es seine dämonischen Gaben, sein Zynismus und Nihilismus, seine pervertierte Erscheinung und Beobachtungskraft? In alle dem ist der Zwerg Oskar Matzerath ein empirisch unnatürliches Konstrukt, das die Institution des Bösen vertritt. In dieser Rolle ist er eher negativ zu interpretiern, obwohl eine Charakterisierung dieser Figur als gut oder als böse sogar unangebracht ist. Er ist mehr eine Art Mephisto, der bei der Leserschaft Sympathie gewinnt. Er ist eine einzige Provokation und Subversion.
Das erzählerische Ganze kann als eine Pseudo-Autobiografie der auftretenden Figur gewertet werden. Diese erzählt die Geschichte eines gescheiterten Lebenswegs. Bezeichnend für das Konstrukt dieser Figur ist nicht nur ihr merkwürdiges Schicksal, vielmehr stellt sie eine Destruktion der eigenen Existenz an sich dar. Der Roman ist eine Mischung zwischen Bildungsroman und zeitgeschichtlicher Erzählung. Dominierend darin ist das erzählerische Leitmotiv, gipfelnd in Oskars Versuch, die jüngste deutsche Geschichte an Hand seines eigenen Lebenswegs “zurückzutrommeln”, die Jahre zwischen 1924 und 1954. Stofflich ist der Text eine eigentümliche Chronik des Vor-und Nachkriegsdeutschlands, allenfalls eher eine “Phantasiegeburt” des Autors. Das ist eine Mischung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, somit also Vergegenkunft [1], wie der Begriff - von Grass selbst erfunden – sugeriert wird. Der Erfolg dieses Romans liegt gewiss in diesem absichtlichen und tonangebenden Dualismus begründet. Man nennt das Werk nicht ganz berechtigterweise auch einen großen Wurf der deutschen Kahlschlagliteratur [2]. Nicht jeder Kritiker teilte in den vergangenen Jahrzehnten diese Meinung. Nun hat der Roman trotzdem “überlebt” und Generationen der Leserschaft herausgefordert, der Trommel des Oskar Matzerath mit Spannung zu folgen bis ins obskure Reich der Schwarzen Köchin. Das Ganze: zugleich “Attraktion und Ärgernis” [3], wie zuweilen festgestellt wurde.
Es sind makabre Kopfgeburten [4], bereits in diesem Roman von Günter Grass, die die Leser seiner Werke an die Vergangenheit erinnern und vor ihrem allgemeinen Vergessen bewahren. Oskar Matzerath, Tulla Pokriefke, Harry Liebenau, Joachim Mahlke, Walter Matern, Eddi Amsel und noch einige präsentieren anhand ihrer Kindheit und Jugend eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort, die sie mit der bürgerlichen Person von Günter Grass teilen. Das Stoffliche ist trotzdem nicht rein autobiografisch zu deuten, wiewohl der imaginäre Grass I an jeder Danziger Ecke lauert. Denn er schöpft nicht nur aus seinen Erinnerungen, wenn er seinen kauzigen Oskar durch den Danziger Vorort Langfuhr, vom Labesweg zur Herz-Jesu-Kirche, vom Gutenberg Denkmal bis zum Danziger Conradium und dem Brösener Strand verfolgt. Vielmehr verfolgt er jenen, dessen Geschichte an seine eigene erinnert und doch die seine nicht ist; so auch den, der mit seiner Trommel unter der Holztribüne verschwindet und dabei, den Takt von “Jimmy the Tiger” anstimmend, das Naziregime auslacht. Kurzum, er verfolgt den kleinen Oskar, der in seiner blasphemischen Art sogar Gottes Sohn in Versuchung führt, dabei allerdings scheitert und deshalb des Teufels böse Kind bleibt, und darum die Schwarze Köchin für alle Zeiten fürchtet. Der Autor selbst verkündete einmal, Literatur brauche den Verlust von Heimat, geografisch oder moralisch II, denn für Günter Grass hat sich fast alles auf dieser Welt an einem kleine Ort und zwischen kleinen Leuten ereignet. In seinem Buch kehrt dieser deutsche Schriftsteller polnischer Abstammung in seine Geburtsstadt Gdansk alias Danzig zurück, wo ihn plötzlich Erinnerungen einholen, und er auf seine Weise die kleine Welt einer vergangenen Zeit zu retten versucht. Sanfter, das heißt zärtlicher evoziert den Heimatverlusst noch früher Sigfried Lenz mit seinem “ Suleyken”.
* Liebe Leser, wer wissen will, wie es weiter geht, wenden Sie sich bitte an Tinti !
[1] Jürgs, Michael: Bürger Grass, S. 21.
[2] Kahlschlagliteratur (Trümmerliteratur): Lit. der 50er u. 60er Jahre; deut. Nachkriegsliteratur; s. Gruppe ´47.
[3] Görz, F.J.: Attraktion und Ärgernis (1984).
[4] Grass, G.: Die Kopfgeburten oder die Deutschen sterben aus. Roman (1980).
I Jürgs, M.: Bürger Grass, S. 11.
II Jürgs, Michael: a.a.O., S. 10.
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